Die russischen Nukleardrohungen, das über Jahrzehnte aufgebaute Narrativ, dass die Ukraine kein echter Staat sei und die mythische Stärke der russischen Armee sind Rauchpetarden welche die Zwänge der Tatsachen verschleiern und immer noch allzu oft funktionieren. Die Tatsache alleine, dass nach dem Russischen Überfall breiter Konsens darüber geherrscht hat, dass die Ukraine den Krieg nach 3 Tagen verlieren würde, ist ein Symptom dafür. Ironischerweise waren gerade Russlandkenner am meisten von dessen Stärke und dem schnellen Sieg überzeugt – mehr als nüchterne Militäranalytiker welche mehr über die Beschaffenheit des Geländes und die Lage der Flüsse wussten als über Russland als Staat. Wieso lagen hier Leute, die Russland weniger gut kannten besser als Russlandkenner? Weil wir in einem Narrativ Russland als Fixpunkt verstehen, dessen Bestehen wir im Gegensatz zur Ukraine gar nicht hinterfragen. Ein Untergehen der Ukraine ist einfach ein viel kleinerer Gedankensprung für uns. Bei der Suche nach Erklärungen für die Fehlannahmen kam dann das scheinbar logische Narrativ auf, dass der Krieg die Ukraine zusammengeschweisst und zur Entschlossenheit gebracht habe. Was aber viel logischer ist, wäre die Schlussfolgerung, dass das entschlossene Standhalten überhaupt erst möglich war, weil die Ukraine eben schon zuvor eine funktionierende Zivilgesellschaft hatte und diese einen Konsens darüber hatte, dass es sich lohnt für ebendiese einzustehend und zu kämpfen.
Was sind die nüchternen Tatsachen?
Cherson wurde an die ukrainische Armee verloren, die Gebiete im Donbass kann die russische Armee weder vollständig erobern geschweige denn dauerhaft halten, die putinsche Ideologie wird in den besetzten Gebieten von der Bevölkerung nicht angenommen und die Krim wird unter Druck geraten oder ebenfalls verloren gehen für die Russen.
Die Ukrainer haben einen grossen Teil der russischen Armee zerstört, die Kriegsbereitschaft der russischen Bevölkerung schwindet, die finanziellen Ressourcen Russlands sind langfristig schwer angeschlagen, das Russische Renomée in der Weltgemeinschaft hat immensen Schaden genommen und Strategie, Taktik und vor allem die Schwächen der russischen Armee hat Putin durch seinen Krieg der ganzen Welt offengelegt.
Nüchterne Tatsache ist nach dem gesagten, dass dadurch die Fähigkeit Russlands, tatsächlich einen Krieg gegen einen NATO-Staat zu führen, massiv reduziert wurde. Das Risiko eines solchen Krieges ist deshalb viel kleiner als vor dem Angriff auf die Ukraine.
Ironischerweise hilft eine Niederlage in diesem Krieg Russland langfristig am meisten. Denn, Druck zur Veränderung entsteht nicht aus einem Sieg, sondern aus einer Niederlage. Und nur tiefgreifende Reformen und Veränderung in Russland sind der Ausweg aus der selbst geschaffenen Sackgasse.
Nehmen wir als Ausgangspunkt unserer Überlegungen, und verwenden wir mehr Zeit, für die nüchternen Tatsachen und weniger für die Narrative und Rauchpetarden. Nüchterne Tatsache ist, dass mehr schwere- und Langstreckenwaffen der Ukraine helfen, den Krieg zu gewinnen. Dies wäre auch für Russland langfristig das beste Szenario. Wenn wir den Mut haben diese anzuerkennen, dann wird eben auch ein Vladimir Putin den Zwängen der Tatsachen unterliegen.
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